Der Charme an OSR und regelärmeren Spielen

Regelwerke sind Werkzeugkästen für das gemeinsame Geschichtenerzählen. Was ich damit meinte, ist, dass wir beim Rollenspielen meist eine Geschichte erzählen wollen. Die Art der Geschichte wird häufig durch Genre und Fokus festgelegt.

Erzählen wir also eine Geschichte über eine Heldengruppe, liegt der Fokus häufig sehr stark auf diesen Persönlichkeiten, ihren Taten und Beziehungen. Wenn jedoch die Geschichte sich um eine Gruppe von Monstern und ihr Dungeon dreht, könnte hier der Fokus auf dem Monsterhort und nicht den einzelnen Figuren liegen. Das ist der Unterschied zwischen Spielen wie Dungeons and Dragons sowie Wicked Ones. In letzterem wird betont, dass der Hauptcharakter der Dungeon ist und nicht die Spielfiguren der Leute am Tisch. Diese Figuren sind potentiell flüchtig und austauschbar in der Geschichte des Dungeons, aber der Dungeon selbst nicht. Dies wird unterstützt durch Regeln, wo die Spielenden einen Teil des Dungeons verkörpern (z.B. spezielle Räume, Fallen, Minions, angelockte Monster etc.) Regeln, die ein Dungeon and Dragons 5. Edition uns nicht bietet, weil es nicht der Fokus des Spiels ist (und sicherlich gibt es Leute, die es soweit biegen wollen, dass das auch geht).

Worauf möchte ich also hinaus? Spielsysteme und Regelwerke unterstützen die Gruppe beim Erzählen einer bestimmten Geschichte. Wie stark gegen ein solches Spielsystem gearbeitet werden muss, hängt von dieser Wahl ab. Die Entscheidung liegt jedoch bei der Spielgruppe.

Disclaimer: Dieser Text soll nicht gute vs. schlechte Spielsysteme darstellen. Wie gesagt, ich sehe Spielsysteme als Werkzeugkasten für Geschichten und manche Geschichten lassen sich mit System A einfacher bespielen als mit System B, aber das hängt von der Gruppe ab. Es geht mehr um die Flexibilität von OSR bzw. regelärmeren Spielsystemen und den Charme von Offenheit/Interpretierbarkeit vs. vordefinierte Detailregeln.

Die Old-School Renaissance

Ich will hier keinen Geschichtsunterricht abhalten, daher beschränke ich mich auf einer kurzen Erläuterung, was die OSR für mich darstellt. OSR ist für mich ein Spielstil anstelle einer Produktfamilie. Wenn ich von OSR rede, meine ich häufig Spiele, die den vier Zen-Momenten von Matt Finch aus der OSR-Fiebel folgen:

  1. Rulings, Not Rules (Regelungen statt Regeln)
  2. Fertigkeiten der Spielenden nicht Fähigkeiten der Charaktere
  3. Helden, keine Superhelden
  4. Vergiss die Spielbalance

Mit einer Prise Player Empowerment (kurz: Spielende haben Einfluss auf die Geschichte durch Co-Authoring/Erzählrechte) und dem Fokus auf Zufallselemente durch Zufallstabellen/-Begegnungen entsteht eine recht mächtige Maschine, um Geschichten zu erzählen. Durch das Einbeziehen der Leute am Tisch, deren Entscheidungen, wohin sie gehen und was sie machen, entstehen häufig genügend Beziehungen, dramatische Situationen und Plots, ohne dass eine große Planung notwendig ist. Durch die fehlende Spielbalance entfällt eine große Last bei Vorbereitungen, die häufig komplizierten Kreaturwerten, Fähigkeiten etc. geschuldet ist. Ich komme in anderen Beiträgen bestimmt auch auf die verschiedenen Ansätze, die ich in meinen Spielen sehr häufig einbinde und so auch sehr einfach meinen OSR-Runden den Kernaspekt von Powered by the Apocalypse (PbtA) „Play to find out“ geben kann.

Regelarme Spielsysteme

Häufig besitzen OSR-Spiele einen relativ kleinen Regelkern. Spiele wie Beyond the Wall und Swords & Wizardry kommen mit 200 – 250 Seiten um die Ecke und beinhalten in einem Buch die Inhalte von den Kernbüchern (Spielendenhandbuch, SL-Buch, Bestiarium) von Dungeons and Dragons 5. Edition. Cairn und Mausritter gehen noch einen Schritt weiter und sind vollumfänglich auf ca. 48 Seiten A5.

Fehlen uns hier Regeln für bestimmte Situationen: Wie ist der Härtegrad für Eisen? Ab welchem Neigungswinkel gibt es Dreiviertel Deckung und entsprechend Nachteil auf Angriffswürfe? Bestimmt existieren diese Regeln nicht im Detail. Aber Zen-Moment 1: Rulings, not Rules. Wenn wir eine solche Regelung brauchen, treffen wir sie am Tisch, halten sie fest und schon haben wir eine Regel. Wir umgehen jedoch zwei Dinge: Wenn ich das Regelwerk als Referenz gut kenne, weiß ich, dass diese Regel nicht existiert und muss nicht blättern. Zweitens: Ich muss mich nicht sklavisch an ein ausgefeiltes Regelwerk halten. Wichtig ist, dass Regelungen konsistent bleiben und nicht beim nächsten Mal sich ändern!

Aber was für Vorteile bietet mich solch ein kleineres Regelwerk? Verschiedene Gruppen haben verschiedene Anforderungen. Manche wollen Gegenstände herstellen und brauchen Regeln dafür. Andere betreiben ein Geschäft in der Stadt und brauchen dafür Ideen, wie man damit umgehen kann. Dadurch, dass unsere Grundlage sehr viel schmaler ist, kommen wir uns mit den vordefinierten Regeln weniger ins Gehege und können uns auf das fokussieren, was unsere Runden treibt. Zwar bedeutet Zen-Moment 4: Vergiss die Spielbalance nicht, dass es gar keine Balance in den Regeln gibt, aber kombiniert mit diesem Prinzip und den schmalen Regelwerken hat man häufig weniger Punkte um gegen sehr spezifische Formulierungen anzuecken, die ein Balancing herstellen. Man denke an die sehr juristischen Spielbegriffe in DnD 5e Statblöcken und Fähigkeitsbeschreibungen (As a bonus action, you can…).

Und wer sich mal Kingdoms & Warfare für DnD 5e angeschaut hat, um Königreichsverwaltung + Massenschlachten abzuhandeln und dann feststellt, dass Massenkampf in Swords & Wizardry im Grundregelwerk mit 250 Seiten auch thematisiert ist, versteht vielleicht die Motivation dieses Blogbeitrags. Denn die leichtgewichtigeren Regelwerke motivieren auch Hausregeln eher minimalistisch und mit Mut zur Lücke zu entwerfen.

Praxisbeispiel

Wir spielen eine Swords & Wizardry Kampagne in der Alten Welt von Warhammer. Beyond the Wall stand im Raum, weil die Gruppe die Dorferstellung und den Fokus auf das Dorf sehr interessant fand. Die Eckpfeiler der Erwartungshaltung waren also:

  • Fokus auf Dorf und Dorfentwicklung
  • Warhammer-esque Eigenheiten: Korruption durch Chaos, zum Teil unkontrollierbare Magie
  • Reduzierte Tödlichkeit, um in das OSR Spielgefühl sich einfinden zu können

Als Hausregeln eingeführt wurden und in späteren Blogeinträgen etwas näher ausgeführt werden:

  • Eine Phase außerhalb der Erkundung/Dungeon/Abenteuerzeit: Die Freizeit
    • Für jede Woche im Dorf erhalten die Charaktere zwei Freizeitaktivitäten, die sie nutzen können, um sich auszuruhen, Beziehungen zu pflegen, Projekte voranzutreiben o.ä. (2 Seiten Regeln)
  • Korruptionsregeln mit neuem Stat und Regeln, wann ein Rettungswurf gegen Korruption notwendig wird und wie der Korruptionswert wieder reduziert werden kann. (2 Seiten Regeln)
  • Kleine chaotische Magie Zusatzregel (halbe Seite Regeln)
  • Berufe und Sozialklassen, um ein wenig die vorherigen (mundaneren) Erfahrungen außerhalb der Abenteuerkarriere aufzugreifen. (1,5 Seiten Regeln)
  • Dich Selbst Erkennen Spielzug, um einen Fehlschlag/Tod in einen Erfolg/Überleben umzuwandeln und dabei die Hintergrundgeschichte der Spielfigur auszubauen und zu ergründen. (5 Seiten Regeln)

Diese ganzen Regeln passen auf 11 A6 Seiten und sind in der kleinen Kampagnenfiebel ausgedruckt am Tisch zu finden. Es ist nicht viel, aber hilft den Leuten am Tisch exakt das zu machen, was sie wollen: Quasi DnD spielen, aber mit Fokus auf Gemeinschaft, ihre Heimat, dem Feeling der Rahmenbedingungen einer Warhammer Welt und einer Möglichkeit nicht gesichtslose Spielcharaktere zu spielen, sondern während des Spiels die Hintergründe ihrer Figuren weiter zu definieren und gleichzeitig ihrem Würfelpech oder noch anfänglichen Missgeschicken ein wenig Spielraum zu geben.

Zusätzliche Spielleitungswerkzeuge

Ich als Spielleitung habe noch andere Mechanismen. Darunter fallen eine leichte Abwandlung der Bedrohungen aus Beyond the Wall: In die Ferne und die simple Fraktionen aus Mausritter. Wir spielen einen Hexcrawl und die Gruppe folgt keinem festen Plot von vornherein. Handlungsbedarf ergibt sich aus Gerüchten und den Einflüssen der Fraktionen und Antagonist:innen auf die Spielwelt. Dafür würfle ich entsprechend nach jeder Spielsitzung, um zu schauen, ob die Ziele der Fraktionen/Antagonist:innen voranschreiten und streue diese Informationen als Gerüchte bei nächster Gelegenheit ein, um die Veränderung in der Spielwelt zu übermitteln.

Der Druck, was die Spielenden tun, kommt also von ihnen während ich schaue, was sie mit den neuen Informationen machen. Play to find out in dem Sinne, dass ich auch nicht weiß, wohin es führt, wenn ich die Information einstreue, dass häufiger blutrünstige Einhörner gesichtet wurden. Ich habe lediglich ein paar Stichpunkte zu dem Thema.

Zusammenfassung

Der Charme an kürzeren und regelärmeren Spielsystemen liegt in meinen Augen darin, dass ich sehr fokussierte Regeln habe, die ich bei Bedarf an die Spielgruppe anpassen kann. Im Gegensatz zu Regelschwergewichten wie DnD 5e, Pathfinder 2 und co. hab ich weniger zu beachten, wenn ich Anpassungen vornehme, und habe auch einen stabilen Regelkern als Grundlage. Die Erweiterbarkeit ist gegeben und die koginitive Komplexität bleibt weiterhin geringer, da der Grundstock an Regeln von Beginn an geringer ausfällt. Der Fokus liegt also auf den notwendigen Regeln, die die Gruppe benötigt. Fehlende Regeln werden mit Regelungen am Tisch spontan geklärt und dann als neue feste Handhabung zukünftig berücksichtig.

Dies ist alles natürlich nur insoweit hilfreich, solange die Gruppe Regeln benötigt, die nicht im Grundregelwerk des jeweiligen Spiels bereits abgehandelt wurden, und idealerweise man viele Regeln des Grundregelwerks nicht benötigt. Wenn ich Wert auf epische Heldenfantasy mit taktischen Kämpfen und sehr detaillierten Regeln und Zuständen lege, brauche ich das Rad wohlmöglich nicht neu erfinden und kann guten Gewissens auf Pathfinder 2 zurückgreifen. Wenn dies aber nicht notwendig ist, würde ich immer nach einer regelleichteren Alternative schauen, um die notwendigen Anpassungen so früh wie möglich, aber zur Not auch während der Kampagne zu machen. Lieber Regeln an den Stellen ergänzen, wo ich sie brauche, anstatt Regeln zu ergänzen, die ich brauche und andere Teile des Regelwerks zu ignorieren. Weniger Regeln bedeutet häufig, weniger Nachschlagen in Regelwerken, mehr Zeit zum Spielen und weniger Zeit zum Diskutieren über Regeln und regelbehaftete Charakterkonzepte. Fokus auf das, was der Spielgruppe Spaß bringt.

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